In Deutschland läuft es unter dem Schlagwort „Chatkontrolle“, in Brüssel unter dem Kürzel CSA: die Verordnung zum Kampf gegen Kindesmissbrauch, Child Sexual Abuse.
Seit zwei Jahren verhandeln die EU-Mitgliedstaaten um eine gemeinsame Position in einer Sache, die unter dem Deckmantel "Kampf gegen Kindesmissbrauch" der Auflösung des digitalen Briefgeheimnis gleichkommt, denn die Kernfrage ist und bleibt: Darf private Kommunikation in verschlüsselten Kommunikationsdiensten, wie z.B. WhatsApp oder Telegram, von staatlichen Stellen auf Darstellungen von Kindesmissbrauch durchsucht werden?
Trotz aller gescheiterten Anläufe in der Vergangenheit hat die neue ungarische Ratspräsidentschaft die Chatkontrolle wieder auf die Agenda gesetzt. In der geplanten Sitzung am 10. und 11. Oktober 2024 will der EU-Innenausschuß über die bisherigen Fortschritte (welche auch immer) sprechen, eine Abstimmung soll dann in der Sitzung am 12. und 13. Dezember 2024 durchgeführt werden. Unfassbar.
Unfassbar, weil man konsequent alle rechtlichen Bedenken, Hinweise von Fachleuten, Aufrufe zivilgesellschaftliche Organisationen usw. ignoriert und einfach weiter macht … ob es eine geheime Agenda gibt?
Patrick Breyer hat auf seiner Webseite aufgeführt, welche Positionen die einzelnen Regierungen einnehmen und was man tun kann: Hilf jetzt mit die Chatkontrolle zu stoppen!
Missbrauch stoppen, bevor er geschieht
Unterdessen hat ein Bündnis aus 48 Organisationen wie Kinderschutzbund, D64, EDRi und Chaos Computer Club die ungarische Ratspräsidentschaft in einer gemeinsamen Stellungnahme aufgefordert, dass die …
Europäische Kommission den Entwurf der CSA-Verordnung zurückzieht und stattdessen mit Kinderrechtsgruppen, digitalen Menschenrechtsgruppen, IT-Sicherheitsexperten und anderen Fachleuten zusammenzuarbeiten, um neue technische und nicht-technische Lösungen zu entwickeln, die rechtmäßig, zielgerichtet und technisch machbar sind, wo diese notwendig sind.
EDRi, 01.07.2024: Joint statement on the future of the CSA Regulation
Freiwillige Chatkontrolle
Die übergangsweise beschlossene freiwillige Chatkontrolle, mit deren Hilfe mutmaßlich verdächtige Chats an die Behörden gemeldet werden, funktioniert übrigens mehr schlecht als recht. Im Bundeslagebericht 2023 Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen des BKA heißt es auf Seite 15:
Das NCMEC nimmt bei der Generierung von ausragende Rolle ein. Insgesamt gingen im Jahr 2023 beim BKA ca. 180.300 Hinweise auf kinderpornografische Inhalte durch das NCMEC ein (2022: ca. 136.450 Hinweise), was einer Zunahme um rund ein Drittel entspricht. Knapp die Hälfte dieser Meldungen (ca. 89.350 Hinweise) waren nach deutschem Recht strafrechtlich relevant (2022: ca. 89.850 Hinweise). Die Anzahl strafrechtlich relevanter Meldungen ging damit im Vergleich zu den Vorjahren leicht zurück.
…
Das NCMEC … prüft … Hinweise von Internetanbietern und Serviceprovidern auf kinder- und jugendpornografische Inhalte und leitet diese an die jeweils zuständigen polizeilichen Zentralstellen der Staaten weiter, in denen die Straftaten mutmaßlich stattgefunden haben.
BKA, 08.07.2024, Seite 15: Bundeslagebericht Sexualdelikte
Demnach ist die Zahl der als verdächtig eingestuften Chatverläufe von 2022 auf 2023 um rund 32% gestiegen, während die Zahl der als strafrechtlich relevanten befundenen Chats zurückgegangen ist. Mit anderen Worten: Die automatischen Algorithmen funktionieren nicht ansatzweise, die Polizei wird mit einer Flut an Falschmeldungen überschüttet und es geraten unzählige private Bilder und Informationen in die Hände Dritter.
Beschwerde beim EU-Bürgerbeauftragten
Mit den fragwürdigen Kontakten der EU-Kommission zu Thorn hat sich nach einer Beschwerde auch der europäische Bürgerbeauftragte (wusste nicht, dass es so eine Stelle gibt) beschäftigt:
Der Fall betraf einen Antrag auf Zugang der Öffentlichkeit zum Austausch, den die Europäische Kommission mit Thorn hatte, die … Instrumente zur Aufdeckung von Material über sexuellen Kindesmissbrauch entwickelt und verkauft hat. Der Austausch fand während der Ausarbeitung eines Vorschlags für eine EU-Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Kommission statt. … Die Kommission gewährte Zugang zu einer Reihe von Dokumenten, weigerte sich jedoch … drei Strategiepapieren und ein Dokument mit Sitzungsprotokollen offenzulegen.
Europäische Ombudsstelle, 12.07.2024: Beschluss über die Weigerung der Europäischen Kommission …
Obwohl der Bürgerbeauftragte zu dem Schluss kam, dass die EU Kommission ihre Entscheidung überdenken sollte, "der Öffentlichkeit den Zugang zu Teilen der vier in der Beschwerde in Rede stehenden Dokumente zu verweigern, um einen erheblich verbesserten, wenn nicht sogar vollständigen Zugang der Öffentlichkeit zu diesen Dokumenten zu ermöglichen", verweigert die Kommission nach wie vor die Offenlegung. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Schluss
Die Privatsphäre heisst Privatsphäre, weil sie privat ist.
Das Internet ist großartig. Allerdings gibt es viel zu tun, damit das so bleibt.
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