"Das Bürgerbegehren zum Marburger Mobilitätskonzept MoVe 35 muss von der Stadtverordnetenversammlung zwingend abgelehnt werden. Das ist das Ergebnis der Prüfung durch das Wahlamt der Stadt: Zwar ist die nötige Anzahl gültiger Unterschriften mit 6.827 deutlich erreicht. Allerdings sind die Fragestellungen und die Begründung des Begehrens aus gleich mehreren Gründen rechtlich nicht zulässig. Demzufolge darf es keinen Bürgerentscheid geben. Das ist gesetzlich festgelegt. Entscheidungsspielraum gibt es nicht."

Homepage der Stadt Marburg: Bürgerbegehren muss abgelehnt werden

Punkt. Keine weitere Diskussion.
Oder?

Eine klare Meinungsbildung zu den Entwicklungen rund um das Bürgerbegehren ist tatsächlich schwierig. Getreu dem schönen Leitsatz "schreiben hilft, das Denken zu ordnen" habe ich die wichtigsten Punkte und meine Gedanken dazu aufgeschrieben. Anmerkungen, Verbesserungen oder Gegenreden sind wie immer willkommen, am besten über die Kommentarfunktion am Endes des Textes oder per E-Mail.

Punkt 1 - Die Formulierung der Frage(n) im Bürgerbegehren

Werfen wir zunächst einen Blick in die hessische Gemeindeordnung. Die Anforderungen an ein Bürgerbegehren sind klar und unkompliziert:

"(Das Bürgerbegehren) muss die zu entscheidende Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten."

Hessische Gemeindeordnung: Bürgerentscheid

Da eindeutig von einer zu stellenden Frage gesprochen wird, fragt man sich schon, was die Verfasser bewogen hat, die Fragestellung im Bürgerbegehren über zwei "aufeinander abgestimmte Fragen" zu formulieren. Natürlich bin ich kein Jurist, aber vor dem Hintergrund der Vorgabe erscheint mir das fragwürdig und wirkt auf mich wie eine Steilvorlage für eine Ablehnung.

In dem OP Artikel Marburg: So kam es zum Rechtsgutachten über Move-Bürgerbegehren erklärt einer der Verfasser des Begehrens, Rechtsanwalt Jörg Frank, "dass die Fragestellung aus seiner Sicht sehr wohl hinreichend bestimmend sei und nur durch die vom Magistrat betriebene Änderung der ursprünglichen Formulierung so ausfallen musste". Und weiter: "Auch die monierten zwei Fragen sieht der Rechtsanwalt nicht als Problem an, da diese sich aufeinander beziehen".

Punkt 2 - Prof. Dr. Dr. Martin Will, M.A. LL.M (Cambridge)

Das Wahlamt und der Magistrat sind jedenfalls der Auffassung, dass "das Bürgerbegehren als unzulässig zurückzuweisen" ist:

"Bei der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, die für Ermessenserwägungen keinen Spielraum lässt. Die Zulassungsentscheidung ist damit insbesondere politischen Überlegungen unzugänglich. Da vorliegend die Voraussetzungen des § 8b HGO nicht erfüllt sind, ist das Bürgerbegehren als unzulässig zurückzuweisen."

Vgl. Beschlussvorlage 13.11.2023: Bürgerbegehren zur Sicherung der verkehrlichen Zugänglichkeit

Wenn allerdings alles so klar ist: Warum wurde dann die Expertise eines externen Beraters eingeholt? Reicht die Sachkunde der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wahlamts nicht aus, um das Bürgerbegehren "aus mehreren selbständig tragenden Gründen" als unzulässig zu erklären?

Zumal der Herr Professor M.A. LL.M (Cambridge) die Beratung sicher nicht kostenfrei durchgeführt hat. Aber was soll's, sind ja nur Steuergelder, die dafür genutzt wurden.

Punkt 3 - Die Unterzeichner

Ob sich die Marburger, die unterschrieben haben, Gedanken über die rechtliche Gültigkeit des Bürgerbegehrens gemacht haben? Sicher nicht. Genauso wenig wie ich, denke ich.

Zumindest bin ich davon ausgegangen, das rechtliche und formale Aspekte hinreichend geprüft wurden und dass ich mit meiner Unterschrift meine ablehnende Meinung zum Maßnahmenkatalog des aktuellen MoVe 35-Konzeptes auszudrücken kann. Dabei spielte die konkrete Formulierung eine untergeordnete Rolle; ich hätte auch eine völlig andere Formulierung unterschrieben.

Den 8.399 Unterzeichnern ging es ja nicht darum, ein rechtlich korrektes Verfahren durchzuführen, sondern um die Beantragung eines Bürgerentscheids, in dem alle Marburger über die Überarbeitung der Maßnahmen des MoVe 35-Konzeptes abstimmen.

Punkt 4 - Einschränkungen in der Beweglichkeit

Richtig angekommen ist das im Magistrat offenkundig nicht:

"Die Sorge, dass man in Marburg in seiner Beweglichkeit eingeschränkt würde – insbesondere von denjenigen, die auf das Auto angewiesen sind, muss ausgeräumt werden."

Vgl. Stellungnahme vom 14.11.2023: Oberbürgermeister Spies bietet Gespräche an

Ein ähnliches Framing bedient auch die SPD Fraktion, hier ist es allerdings die "verkürzte Diskussion um die Anzahl von Parkplätzen" - vergl. Entscheidung zum Bürgerbegehren.

Zur Erinnerung: Es geht bei den Maßnahmen des MoVe 35-Konzepts im Wesentlichen um den Aspekt, das Autofahren möglichst unattraktiv zu machen. Dabei soll der Durchgangsverkehr an vielen Stellen so unterbrochen werden, dass Kfz-Nutzer große Umwege in Kauf nehmen müssen.

Denn das Ziel ist klar benannt: "Reduzierung des Anteils des motorisierten Individualverkehres (MIV) an den zurückgelegten Wegen um 25 bis 50 %, möglichst eine Halbierung" - vergl. Gedanken & Ansichten zu MoVe 35: Das Konzept.

Punkt 5 - Wie geht es weiter?

Am Dienstag, 21.11.2023 tagt der Hauptausschuss. In der öffentlichen Sitzung wird die Beschlussvorlage Bürgerbegehren zur Sicherung der verkehrlichen Zugänglichkeit beraten.

Die Vorlage kommt dann in der ebenfalls öffentlichen Sitzung der Stadtverordneten am Freitag, 24.11.2023 zur eigentlichen Abstimmung.

Apropos Abstimmung: Interessanterweise können die Marburger Stadtverordneten auch unmittelbar die Durchführung eines Bürgerentscheids beschließen. In der HGO heißt es dazu:

"Auch die Gemeindevertretung kann anstelle einer eigenen Entscheidung die Durchführung eines Bürgerentscheids beschließen; der Beschluss bedarf der Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Mitglieder (Vertreterbegehren)."

Hessische Gemeindeordnung: Bürgerentscheid

In der nächsten Folge unseres Podcast Randgeschehen am Dienstag, 21.11.2023 sprechen wir übrigens auch über das Thema.

Punkt 6 - Schluß

Natürlich sind Regeln und formale Aspekte wichtig und zielführend, sonst würde Chaos ausbrechen. Bürger haben aber auch ein feines Gespür dafür, inwieweit das Schlagwort Bürgerbeteiligung ernst gemeint ist und wie man am Ende mit dem eindeutigen Votum von rund 8.400 Unterzeichnern umgeht. Rechtliche Unzulässigkeit hin oder her.

Abschließend möchte ich noch anmerken, dass es mir außerordentlich gut gefällt, dass es überhaupt zu einem Bürgerbegehren in Marburg gekommen ist - völlig unabhängig davon, wie es ausgehen wird. Es ein Format, das direkte und indirekte Auswirkungen auf den politischen Prozess hat und damit in jedem Fall die Demokratie vor Ort stärkt. Durch die öffentliche Diskussion kommen viele Aspekte, Argumente und Beweggründe auf den Tisch und viele Bürger, die sonst keine Kenntnis von einer Sache erhalten haben, werden damit konfrontiert. Und das ist gut.

Nachtrag - Wo ist eigentlich Dr. Kopatz abgeblieben?

Weder bei der MoVe 35-Werbetour des Magistrats durch die Marburger Stadtteile war er dabei, noch durften wir ihn bei der Stellungnahme zum Bürgerbegehren erleben. Es gibt keine neuen Postings bei Instagram. Auch die MoVe 35-Veranstaltung des AFK Marburg am 29. November 2023 wird ohne Dr. Kopatz stattfinden. Was ist passiert?